Oktoberfahrt ins Val Grande

Welch wunderbares Vorhaben: Vor der kalten Jahreszeit noch einmal goldene Herbstsonne tanken. Raus aus der abgestandenen Corona-Müdigkeit in den eigenen vier Wänden. Rein in eine Fahrtenwoche Mitte Oktober im norditalienischen Val Grande. Als eine von uns jedoch vier Tage vor Fahrtenbeginn aus dem Schneegestöber eben jenes Fahrtengebiets schreibt, kommen wir noch einmal ins Straucheln: Wollen wir wirklich frühzeitig in den Gebirgswinter? Wir wollen! Denn die Einsamkeit der Berge lockt und im Gepäck haben wir, neben einem weiteren Wollpulli, nun das feste Vorhaben: „Wir machen es uns gut und vor allem warm!“

Mit dem Ankommen auf der südlichen Alpenseite haben wir die Bedenken rund um Schnee und Eis beinahe vergessen und plötzlich Sonne im Gesicht. Frizzantig kichernd und abenteuerlustig wandern wir aus Malesco los. Die Straße runter und dann links abbiegen. Ein Stopp am Wasserfall am Ortsrand, ein Liedchen und dann nur wenige Meter und wir tauchen von einem Augenblick auf den nächsten ins Fahrtengebiet ein. Schritt für Schritt weg von den Ereignissen, die zur Zeit unseren Alltag bestimmen. Eine Woche alleine, keine anderen Menschen, nur wir vier Fahrtenschwestern und die Vögel.

Am Abend sitzen wir am Feuer, gemütlich an die Steinwand der Berghütte der Alpe Bondolo gelehnt. Die wohlige Nähe unter uns Fahrtenschwestern tut gut. Über uns eine schneebedeckte Gipfelkette. Um uns herum im Krater ohrenbetäubende Stille. Unser Blick fällt auf den Pass. Da geht‘s morgen hoch? Und hinter dem Pass? Was werden wir dort sehen?

Langsam wandern wir den Berghang hoch. So langsam, dass wir nicht das Oben ersehnen, sondern die Freude an jedem einzelnen Schritt uns weiter gehen lässt. Der Pass, etwas Schnee und Eis. Eine Pause. Dahinter Frieden und wohltuende Einsamkeit und atemberaubende Ausblicke. Wir sind im Farbenrausch. Hell leuchtend goldener Herbstwald, als ob die warme Sonne scheint, als ob der Wald brennt und die Berghänge in lodernden Flammen stehen.


Große Grasbüschel mit langen spitzen Halmen in Knallorange und die roten Perlen einer Eberesche, die wir mit einem russischen Lied besingen, das uns Lust macht auf noch mehr vielstimmige Lieder. Wir versuchen es mit der italienischen Bergsteigerhymne. Sie ist sakraler und anspruchsvoller als gedacht. Wir geben nicht auf und arbeiten uns durch die Partitur. Wir verschlingen gemeinsam ein ganzes Buch und literarische Erinnerungen an die Alpe-Bauern und ehemalige Partisanen im Val Grande machen uns nachdenklich. Sie lassen unseren Blick nach Spuren ihres Schicksals suchen. Ein verfallenes Haus, verrostete Reste einer Lastenseilbahn, ein dichtes Gebüsch als gutes Versteck vor den Nazis.

Lange bleiben wir nie bei etwaigen Fundstücken entlang unseres Pfades stehen. Sobald wir uns nicht bewegen, ist es kalt, zuweilen sogar sehr. Aber unsere Devise “Wir machen es uns gut!” wird zu einem Reigen aus Selbstfürsorge und Umsorgen untereinander. Er beginnt morgens im Schlafsack mit dem Heißgetränk direkt nach dem Aufwachen, für das keine von uns den Schlafsack verlassen muss. Zu verdanken ist das einem von uns stolz ausgeklügelten Ablauf von Wassererhitzen während des abendlichen Zähneputzens, in Thermoskannen füllen und diese bis zum Erwachen bedacht an warmen Orten lagern. Heißgetränke gibt es auch tagsüber in jedem Päuschen. Allerdings erst, wenn jede in Windeseile ihre Schweißklamotten abgeworfen und nach einem nackig mitten in dieser wunderschönen Natur fröstelnden Augenblick ihre trockenen Niemals-Schweiß-Klamotten übergestülpt hat.

Ein Spiel aus Kälte und Wärme ist auch unser abendliches Bad im eiskalten Gebirgswasser. Den Schweiß des Tages abwaschen und dann mollig warm einmummeln. Es macht Spaß, gemeinsam der Kälte zu trotzen. Sie ist nicht feindlich, weil wir gut ausgerüstet sind. Wir genießen es, dass alles so klar und kühl um unsere Köpfe ist. Das Haarewaschen allerdings sparen wir uns dann doch bis zum letzten Fahrtentag.

Die Nächte sind erfüllt vom Rauschen der vielen Bäche, von Frost, rauchenden Öfen, Kerzenschein, den vielen leuchtenden Augen einer ganzen Herde Rehe, dem Schrei von Käutzchen und von Geborgenheit und der Wärme heißer Steine im Schlafsack, die wir uns abendlich am Feuer vorbereiten.

Die letzte Nacht verbringen wir in der Hütte Colmar. Sie sitzt direkt oben auf einem Sattel. In die eine Richtung blickt man tief in die Natur des Val Grande, auf der anderen Seite guckt man ins Tal mit Ortschaften, Eisenbahn und kleiner Industrie. Der Blick in die Zivilisation ist so schön und faszinierend und so hässlich zugleich.

Als sie uns am letzten Fahrtentag wieder in Empfang nimmt, zeigt sie sich von ihrer schönen Seite. Die letzten Stunde dieser Fahrt sitzen wir in der prallen Sonne mit kurzen Hemden im Cafe des kleinen italienischen Örtchens Premosello. Was für ein Kontrast zu den vorangegangenen frischen Tagen in den Bergen!