Balkansommerfahrt

Die Grenze zwischen Sonne und Schatten spannt sich den Pass entlang. Sie trennt die beiden Täler unseres Auf- und Abstiegs voneinander und bestimmt durch den harschen Lichtkontrast auf besondere Weise die Andersartigkeit der zwei Etappen unseres ersten richtigen Tages zu Fuß. 

Eigentlich sind wir erst spät, in hoher Mittagssonne, aus dem sonderbaren Bergdorf Theth aufgebrochen, wo alte Steinkirche und lahmendes Pferd sich neuerdings mit kratzigen Stahlbeton-Skeletten als Nachbarn abfinden müssen, die sich in diesem frühen Stadium bereits auf bunten Schildern als „Hotel Paradise“ rühmen.

Auf der Nordwestseite Schwitzen (trotz kurzen Ärmeln und der ersten Oktoberwoche), in jeder Trinkpause doofere Witze und lautere Lieder, Hände in Gebirgsflüsse halten. Dann kurz ausgelassenes Pass-Gejohle, -Gekrähe und -Getanze. Wie verdammt gut wir es haben, noch eineinhalb Wochen in diesem Stück Land unterwegs sein zu dürfen! Ein schweigsamer, beinah andächtiger Abstieg im Südosten, mit Hauchen können und plötzlich dann doch fröstelnde Finger in den Hemdsärmeln verstecken. Um Eis von Geröllschneisen unterscheiden zu können, muss ich die Augen zusammenkneifen.

Die jungen Albaner auf oder neben Lastenpferden, aber stets mit Smartphone in der Hand, überholen uns auch bergab noch. Ihre entfernten Stimmen verraten die Richtung in der raschen Dämmerung. Die letzten Schritte des Tages sind bald gezählt und eigentlich ist es auch ganz gut, dass ich aus Versehen immer zu viel Pfeffer an unser Abendessen mache, denn es wird wie jede Nacht eine kalte; trotz warmer Steine im Schlafsack. 

Darf man trampen, wenn der Wegabschnitt auf unbestimmte Dauer hässlich wird? An die Stelle weißen Karsts und Rumelischer Kiefern sind grauer Beton und noch mehr grauer Asphalt getreten je weiter wir uns Valbona nähern. Wir sind uns uneinig. Ich kicke Steine, fluche über die deutschen Nummernschilder und die vielen Müllhalden neben den halbfertigen Häusern, in denen Familien streiten. 

Nach einer Stunde Nölen gibt es da aber auf einmal diese Frau, die in ihrer Garage klebriges Karamelleis verkauft. Im angrenzenden Garten sitzt der Rest der Familie und teilt schon bald mit uns die ersten süßen Birnen. Zwischen weibshohen blassrosa Kosmeen sitzt und singt es sich auch am Plastiktisch außerordentlich idyllisch. Das meinen auch die Hausbesitzer und knipsen mit der dicken Spiegelreflex ein Photo nach dem anderen für die neue Internetpräsenz ihres kleinen Guesthouse. 

Die Menschen, denen wir begegnen, illustrieren in ihrer Lebensweise noch oft einen spannenden Widerspruch aus Gestern und Morgen. Verschiedene Bevölkerungsgruppen scheinen die Länge eines Tages vollkommen unterschiedlich wahrzunehmen. Mitleid haben wir vor allem mit den hübsch bemützten Großväterchen, die zu zweit, noch öfter allein, die sonst ausgestorbenen Marktplätze bewachen. Sie wird wohl morgen niemand mehr ablösen. 

Unbeabsichtigt haben wir unser Tarp so aufgebaut, dass es der Kuhherde ein Hindernis auf dem eigenständigen Nachhauseweg in den heimischen Stall von Cerem ist. Also übereilt noch einmal alle Seile lösen und höflich passieren lassen. Irgendwie ist es schön, in dem allabendlichen Gewusel zum gemeinsamen Innehalten gezwungen zu sein.

Philippas Fahrtenüberraschung ist eine Jasminteeblume, an Schokokeksen wird heute nicht gespart und das Essen ist genau richtig pfeffrig – eigentlich haben wir es an diesem Abend außerordentlich gemütlich. Dennoch ziehen wir lange Gesichter und die Augenbrauen miesepetrig zusammen. Wir müssen irgendwie irgendwas umdisponieren. 

Nicht alle von uns trauen sich noch zu, die nächsten Tage so zuzubringen wie die vergangenen. Andere aber hatten sich monatelang auf genau diese anstrengende Hochgebirgstour gefreut. Sich aufzuteilen ist keine wahrhafte Option, aber Berge nun einfach Berge sein lassen fühlt sich auch sehr falsch an. Es fällt uns schwer, endgültige Entscheidungen zu treffen und im Funzellicht kann man die Karten eh nur mühsam lesen. 

Die schönen Pläne für die nächste Woche sind auf jeden Fall passé. Sie zu ersetzen, will uns noch viele weitere Tage schwerfallen, mal zieht es uns hier-, dann wieder dorthin, eher per Daumen als zu Fuß. Unser kopfloses Fahrtenglück ist überall vergriffen.

Weder bei den lauten Spatzen in den Bäumen von Shkodër können wir es wiederfinden, noch am Tassenboden des Gelegenheitscappuchino, auch nicht in Freundschaften mit bosnischen Streunerwelpen. Wir sind enttäuscht, denn eigentlich stimmt alles um uns herum, Wetter und Land. Und eigentlich ja auch unsere Gruppe. Doch die Herausforderungen, die nun die Berge nicht mehr an uns stellen, schaffen wir uns selbst. Es ist schwierig, den Sorgen einer anderen genug Platz einzuräumen, wenn man selbst noch immer davon überzeugt ist, dass wir hätten weiterwandern können.

Alle finden ihre eigenen verschiedenen Wege, mit dem Verdruss umzugehen. Ich heule mehrere Stunden beim endgültigen Abstieg aus dem Gebirge und fühle mich abwechselnd von den Bergriesen, die uns noch umringen, bemitleidet oder hochmütig belächelt. Andere von uns hadern erst Tage später und überlegen, ob sie nicht einfach sofort abreisen. Natürlich sind wir noch immer viel am Lachen und Singen. Es geht uns nicht schlecht. Aber so richtig richtig fühlt sich für uns kein Ort mehr an.

Wir sind lange auf der Suche nach einer so klar definierten Grenze wie der an unserem ersten Tag auf dem Pass. Erst als wir schon wieder in der Nähe von Sarajevo sind, scheinen wir sie endlich kreieren zu können. 

Vielleicht, weil wir nun ganz bewusst etwas völlig Anderes unternehmen und nicht mehr versuchen, die schönen ersten Tage des Wanderns nachzuahmen. 

In unserer kleinen Datsche bäckt Jona Tag und Nacht kleine Fladen aus Mehl und Wasser auf dem schwarzen Ofen und in all der herbstlichen Gemütlichkeit, mag ich auf einmal dringend Weihnachten feiern. Eine richtige Wald- und Wiesenweihnacht soll es werden, da sind wir uns schnell einig. Mit Kränzen und Fröbelsternen, Kürbissuppe und Bratäpfeln, mit Vorlesen und ersten Liedern vom Schnee. 

Ja, und so kommt es, dass es uns plötzlich endlich wieder gelingt, etwas mit Elan und Wirbel anzugehen. Irgendwie haben wir gelernt, das, was wir an Schönheit um uns herum erleben wollten, ganz gut mit Schönheit, die wir aus unserer Gruppe heraus entstehen lassen, zu ersetzen. 

Sehr anstrengend war das, nicht in Schweiß, sondern in Stirnfalten messbar. Aber auch sehr wertvoll.

Und in zwei Jahren wollen wir uns dann genau hier wiedersehen, um unseren Weg zu Ende zu gehen.

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